Die 6 „Förmlichkeits-Grade“ in Netzwerken

Grad 1: Die Bauarbeiter-Runde: Keine Förmlichkeit

Hier gibt es keine Regeln, die Mitglieder benehmen sich so, wie sie es allein zuhause tun würden. Da Netzwerke per se nur dann funktionieren, wenn es gewisse Regeln gibt,  sind solche „Bauarbeiter-Runden“ meist ad hoc-Gruppierungen, wie z.B. bei Massenkonzerten, Parties, oder außergewöhnlichen Ereignissen wie Katastrophen. Da wir in diesem Buch keine Katastrophen thematisieren wollen, vertiefen wir diese „unförmliche“ Variante der Netzwerke auch in dieser Betrachtung nicht weiter.

Grad 2: Der Freundeskreis: Lockere Förmlichkeit

In diesen Netzwerken gibt es lediglich Grundregeln des Verhaltens. Hier kommt es nicht so sehr darauf an, wie man etwas sagt, sondern was man damit meint, nicht so sehr, ob man gewisse Formalitäten einhält, sondern ob man die sozialen Grundregeln beachtet und ein konstruktiver Teil der Gruppe ist. Ob Sie in solch einer Runde den Gastgeber zuerst begrüßen oder nicht, ob Sie sitzen, stehen oder liegen, ob Sie viel reden oder wenig: Solange Sie nicht auf den Teppich spucken und halbwegs nett zu allen sind, wird man Sie gerne in die Gruppe integrieren. Typisch für diesen niedrigen Grad an Förmlichkeit sind Netzwerke im Sport (wo es mehr auf Leistung als auf die Form ankommt) oder eben Freundeskreise.

Grad 3: Die Kollegen-Gruppe: Bürgerliche Förmlichkeit

Bei diesem Grad beginnen die spürbaren Förmlichkeiten. Netzwerke beginnen hier, sichtbare Hierarchien aufzubauen. Deutlicher Ausdruck der beginnenden Ritualisierung sind z.B. Sitz- oder Rede-Ordnungen. Gewisse Rituale werden hier wichtig, Sie sollten sich dem Gastgeber / Leiter der Gruppe zuerst vorstellen, darauf achten, wann und wie viel Sie sprechen, welche Kleidung Sie tragen, usw. Netzwerke mit diesem Grad an Förmlichkeit begegnen uns fast überall in unserem täglichen Leben. Es sind die üblichen Kreise von Arbeitskollegen, Bekannten oder anderen gesellschaftlichen Gruppen, in denen wir uns bewegen. Hier muss man vielleicht keinen Anzug mit Krawatte tragen, aber das super-bequeme Freizeithemd mit dem „Legalize It!“-Schriftzug sollte es eben besser auch nicht sein.

Grad 4: Der Geschäftspartner-Zirkel: Professionelle Förmlichkeit

In Netzwerken des vierten Grades beginnen die Förmlichkeiten, deutlich spürbar zu werden. Hier achtet man nicht nur darauf, dass Sie einen Anzug tragen, sondern welche Marke es ist (im Freizeitbereich ist das Äquivalent das richtige Markenoutfit zum Tennis oder Golf). Solche Gruppierungen definieren ihr Selbstverständnis zu einem nicht unwesentlichen Teil über die Form des Umgangs miteinander. Hier wird es zunehmend wichtiger, dass die Art und Weise, wie Sie etwas sagen, stimmt, nicht unbedingt, was Sie sagen. Ein typisches Beispiel sind Messen und Kongresse, bei denen man sehr deutlich die Rituale und Hierarchien beobachten kann: Treffen zwei Gruppen von Geschäftsleuten aufeinander, werden meist die hochrangigeren Mitglieder der Gruppe durch jemanden mit einem niedrigeren Rang (Assistent, Sekretärin) einander vorgestellt. Die Mitglieder höheren Ranges setzten sich zuerst und werden vor den anderen mit Getränken versorgt. Ebenso bestimmen die ranghöchsten den Verlauf des Gespräches und definieren durch den Umgang miteinander den Grad der Förmlichkeit, den die anderen Mitglieder der Gruppe dann befolgen. Meist wird nicht sofort über das jeweilige Thema gesprochen, sondern ein auflockerndes Vorgespräch „vorgeschaltet“. Wer hier gegen die vorgegebene Form verstößt (indem er zum Beispiel zu oft ungefragt das Wort ergreift oder sein Handy klingen lässt), wird von seinem Netzwerk negativ sanktioniert.

Grad 5: Der Diplomatenkreis: Ausgeprägte Förmlichkeit

In Netzwerken des fünften Grades werden die Förmlichkeiten zur Hauptsache und dominieren die Kommunikation. Hier wird es auf einmal wichtig, mit welchen Gesten Sie jemanden begrüßen, ob, wie und wann Sie sich verbeugen, welche Themen Sie ansprechen und ob Sie überhaupt sprechen. Beispiel dieses Grades ist das diplomatische Corps. Hier existiert ein über Jahrhunderte eingespieltes System von Ritualen und Kodizes, die ein Außenstehender nicht kennt und die ihn deshalb tatsächlich zum „außen Stehenden“ machen. So gibt es ungeschriebene Gesprächsregeln, die eingehalten werden (zum Beispiel, in einer Gesprächsrunde keine Kritik an Regierungen anwesender Länder zu üben), protokollarische Regeln (zum Beispiel, gewisse Menschen nicht mit Handschlag zu begrüßen oder bei einem Empfang zu aller erst den Gastgeber und ggf. seine Frau zu begrüßen, bevor man den jeweiligen Ort betritt) und gewisse andere Rituale (zum Beispiel, Asiaten die Visitenkarte mit beiden Händen zu übergeben), die man beachten sollte. Wenn Sie einmal die Netzwerke überprüfen, die Sie kennen, werden Sie feststellen, dass die meisten „Traditions-Clubs“ auf dem Niveau des fünften Grades agieren. Seien es die britischen Clubs und ihre internationalen Nachahmer oder schlagende Studentenverbindungen: die Rituale und Förmlichkeiten for “men die jeweilige Gemeinschaft und schließen Nichtmitglieder wirksam aus, da diese ja gleichzeitig „nicht Wissende“ sind, was die Regeln betrifft. Wenn Sie jemals an einer „Kneipe“ einer Studentenverbindung (also einer förmlichen Trinkveranstaltung) teilgenommen haben, bei der sowohl die Sitzordnung, als auch die genaue Art und Weise, wie man sein Glas zum Mund zu führen und zu leeren hat, bis ins Detail vorgeschrieben sind, wissen Sie, wie das Prinzip dieses Grades funktioniert. Übrigens: auch diese Traditionsveranstaltungen aus dem 19. Jahrhundert sind letztendlich nur moderne Varianten viel älterer Rituale. Sie gehen auf das griechische, bzw. römische „Symposion“, bzw. „commissatio“, das antike Trinkgelage, zurück:

Kernpunkt war auch hier, dass sich derjenige, der sich zu der Gemeinschaft der Trinker gesellen wollte, auch den Regeln zu unterwerfen hatte, damit das sozialverstärkende Element dieser Rituale auch funktionierte. Cicero brachte es mit einem Satz auf den Punkt: Aut bibat aut abeat (deutsch: „Er möge trinken oder weggehen“).

– Cicero –

(„Tusculanae disputationes“)

Denn es kommt gar nicht auf die eigentliche Tätigkeit an (gemeinsames Besäufnis, Sport, musizieren, etc.), es liegt nicht am Inhalt, es ist vielmehr die Form, genauer das Ritual, das eine Gemeinschaft spürbar werden lässt. Durch ein ausgeprägtes System an Förmlichkeiten kann man Menschen erleben lassen, dass sie zusammengehören. Dieses Phänomen kann man gut unter US-amerikanischen Jugendlichen beobachten: Diese etablieren in ihrem jeweiligen Freundeskreis, bzw. ihrer Gang, Crew, Posse eine ganz spezifische Kombination der Begrüßung, die nur den „Eingeweihten“ bekannt ist und die Zugehörigkeit demonstriert. Wenn Sie also in Brooklyn dazu gehören wollen, können Sie einfach folgende Anleitung von „hip-hop.de“ unter „How to – Die richtige Begrüßung“ einüben:

„Sie geben sich die Hand, haken in einer fließenden Bewegung die Finger ineinander und stoßen die Hände mit den Daumen voneinander ab. Gleich geben sie sich die Hände wieder, allerdings haken sie Daumen in Daumen und umfassen mit den restlichen Fingern die Hand des anderen. So festgehalten ziehen sie sich zueinander und stoßen die Schultern aneinander, klopfen sich mit der freien Hand auf die Schultern um dann loszulassen und die zu leichten Fäusten geballten Hände noch mal aneinander zu schlagen. Es können ganz “ausgefallene Dinge eingefügt werden, wie Kicks in die Luft oder mit den Händen geformte Symbole wie überkreuzte Finger oder zum Beispiel das Peace-Symbol.”

So lächerlich sich dies zunächst anhört: unterschätzen Sie nicht die Macht von Ritualen und einem System von ausgeprägten Förmlichkeiten, auch nicht bei einer Gruppe Pubertierender. Welche Kraft Gemeinschaften, die stark „durchformalisiert“ sind, haben, sehen Sie im sechsten Grad.

Grad 6: Das Kardinals-Kollegium: Die Essenz der Förmlichkeit

Sämtliche Religionsgemeinschaften, Armeen und Geheimbünde bauen auf extreme Förmlichkeiten. Bei der Religion ist dies kein Wunder, denn ein lockeres Zwiegespräch mit Gott ist bisher nur wenigen so gut wie Don Camillo gelungen, alle anderen sprechen mit dem höheren Wesen, ohne, dass es antwortet. Folglich wird die Kommunikation mit einem Gott automatisch zum Ritual, da das Gegenüber ja nicht reagiert. Die katholische Kirche ist eines der formalisiertesten der großen Netzwerke, sie hat den Umgang ihrer Mitglieder untereinander bis ins Detail geordnet. Wenn Sie einmal über eine Vollversammlung des katholischen Kardinalskollegiums, ein sogenanntes „Consistorium“ gelesen haben, wissen Sie, wie die „schwarze Piste“ der Förmlichkeiten aussieht. Hier ist jeder Schritt, jeder Satz, jeder Blick geregelt, da gibt es keine spontanen Inhalte. Solche Gemeinschaften, in denen die Förmlichkeiten und Rituale wichtiger sind, als Inhalte und Mitglieder, sind quasi der „Extremsport“ der Netzwerkkultur.

This website uses cookies to ensure you get the best experience on our website.